100 Jahre Reckenfeld – Vom Pulverfass zur Pioniersiedlung

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(Grafik: Schwegmann)

Meine Spaziergänge durch Reckenfeld sind mir lieb geworden. Gerade jetzt wo ich mit jeder weiteren Recherche in die Geschichte dieses Ortes eintauche. Ich entdecke ganz neue Details. Da sind die alten Mauern, die sich in so manchem Wohnhaus verbergen – Überreste der einstigen Munitionsschuppen, stumme Zeugen einer militärischen Vergangenheit. Und immer stärker verfestigt sich in mir die Frage: Wie genau kam es eigentlich zu dieser offiziellen Besiedlung, die aus einem einstigen Pulverlager einen lebendigen Ort gemacht hat?

Die unmittelbare Nachkriegszeit war geprägt von Unsicherheit und dem Wiederaufbau. Doch im Reckenfelder Depot herrschte weiterhin rege Bautätigkeit. Solange Material vorhanden war, trieb das Militär den Ausbau des Areals voran. In den ersten Monaten des Jahres 1919 fanden hier rund 400 Menschen Arbeit.

Am 1. Oktober 1919 fasste das Reichsschatzministerium einen Beschluss: Aus dem militärischen Depot sollte eine zivile Siedlung entstehen. Parallel dazu begann die Vernichtung der immensen Munitionsbestände, ein gefährlicher Prozess, der sich bis ins Jahr 1925 hinziehen sollte.

Die damalige Reichsregierung traf in dieser Phase eine Entscheidung, die sich später als kostspieliger Fehler erweisen sollte. Sie verkaufte das gesamte Gelände an die Eisenhandelsgesellschaft Ost (EHG Ost) – inklusive des Bahnhofs. Dieser Umstand sollte sich rächen, denn als die Notwendigkeit des Bahnanschlusses für die zukünftige Siedlung erkannt wurde, musste dieser von der EHG Ost teuer zurückgekauft werden. Die EHG Ost ihrerseits hatte das Ziel, die zahlreichen Eisenbahnschienen des ehemaligen Depots zu verwerten.

Als die letzte Munition im Jahr 1925 vernichtet war, erkannte die EHG Ost eine neue Geschäftsmöglichkeit. Um die ehemaligen Munitionsschuppen gewinnbringend zu verkaufen, brauchte es Siedler. Die Gesellschaft stellte zu diesem Zweck aus einigen Munitionsschuppen Musterhäuser her, um potentielle Käufer anzulocken und ihnen eine Vorstellung vom Leben in den ungewöhnlichen Behausungen zu geben.

Und die Werbemaßnahmen zeigten Wirkung. Am 27. und 28. August 1925 trafen die ersten 14 Optantenfamilien in Reckenfeld ein – insgesamt 63 Menschen, die hier eine neue Heimat suchten. Allerdings sah die Realität vor Ort etwas anders aus als vielleicht erträumt: Statt in schmucke Musterhäuser zu ziehen, mussten sich die ersten Familien notdürftig aus den alten Munitionsschuppen ihre eigenen vier Wände improvisieren. Die anfängliche Enttäuschung bei den ersten Bewohnern war also durchaus groß. Diese Ankunft markiert dennoch einen Wendepunkt in der Geschichte des Ortes. Die offizielle Besiedlungserlaubnis wurde ebenfalls im Jahr 1925 erteilt. Genau deshalb feiern wir in diesem Jahr das 100-jährige Bestehen Reckenfelds.
Die ersten veräußerten Grundstücke waren mit zwei bis drei Hektar ungewöhnlich groß, was auf die ursprüngliche Nutzung des Geländes zurückzuführen war. Die ersten Wohnhäuser entstanden tatsächlich aus den alten, robusten Munitionsschuppen. Es dauerte bis ins Jahr 1927, bis das erste Haus erbaut wurde, das zuvor keine militärische Funktion gehabt hatte. Ende 1935 waren schließlich alle 208 Schuppen verkauft oder vermietet.

Ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte Reckenfelds war das Jahr 1929: Von offizieller Seite, durch die Amtsverwaltung Greven, erhielt der Ort seinen heutigen Namen.

In den Jahren zwischen 1925 und 1930 entwickelte sich die Infrastruktur des neuen Ortes stetig weiter. Eine Postagentur wurde eingerichtet, eine Polizeistation sorgte für Sicherheit und die ersten kleinen Läden entstanden, um die Grundversorgung der wachsenden Bevölkerung sicherzustellen.

Auch der Zweite Weltkrieg hinterließ seine Spuren in Reckenfeld. So sind zwei Flugzeugabstürze im Block C und D bekannt.

Die größten Auswirkungen auf Reckenfeld hatte jedoch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, die sich auf dem Rückzug befanden, strandeten in großer Zahl in Greven am Dortmund-Ems-Kanal, da dort die Brücken gesprengt waren. Die britische Besatzungsmacht hatte die Aufgabe, diese Menschen unterzubringen. Der Befehl kam prompt: Block A und B des ehemaligen Depots mussten innerhalb von 24 Stunden geräumt werden. So kamen viele polnische Staatsbürger nach Reckenfeld. In der Spitze lebten bis zu 3000 Polen in den 120 Schuppen dieser beiden Blöcke. Viele von ihnen hegten den Wunsch, nach Übersee auszuwandern. Eine Heirat und vielleicht ein gemeinsames Kind galten dabei als vorteilhaft für die Weiterreise. Diese Zeit wird umgangssprachlich auch als „Polenzeit“ bezeichnet. Es dauerte bis ins Jahr 1950, bis die letzten Reckenfelder Bürger ihre Häuser in den Blöcken A und B zurückerhielten.

Diese bewegte Geschichte, von den militärischen Anfängen über die abenteuerliche Siedlerzeit bis hin zur prägenden „Polenzeit“ nach dem Zweiten Weltkrieg, hat Reckenfeld auf einzigartige Weise geformt. Gerade weil der Ort noch so jung ist, gibt es hier im eigentlichen Sinne keine „Vollbürger“, im Sinne von Menschen, die seit Generationen hier leben. Die meisten Familien zählen erst die zweite oder dritte Generation, die ihre Wurzeln in Reckenfeld geschlagen haben.

Diese markanten Punkte der Ortsgeschichte – die ungewöhnliche Entstehung aus einem Munitionsdepot, die Ankunft der ersten Siedlerfamilien und die bewegte Zeit der polnischen Gemeinschaft nach dem Krieg – sind es, die den Charakter Reckenfelds bis heute prägen.

Im kommenden Teil zur Geschichte Reckenfelds werden wir einen Blick auf die nähere Vergangenheit des Ortes werfen. Die Informationen für diesen Artikel stützen sich auf das Gespräch mit Klaus Schwenken sowie die Webseite „Geschichte Reckenfeld“ von Manfred RechReckenfeld100

(H I E R  finden Sie alle bisher erschienenen Beiträge zu dieser Serie)

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